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"Dadada"

Die Sonne schien gehässig auf Regentropfen, die sich genüßlich auf den soeben geputzten Fensterscheiben niedergelassen hatten. Der Staub, nur für kurze Zeit von seinem angestammten Platz aufgescheucht, rieselte sanft im Licht auf das zuvor gereinigte Regal nieder. Die junge Frau saß erschöpft am Tisch. Ihr Blick schweifte hinaus in die Freiheit, durch den Fensterholzrahmen, der sich nur noch mühsam an etwas Farbe erinnern konnte. ’Es wird Zeit, wieder etwas zu tun’, dachte sie, von einer Unruhe getrieben. Obwohl sie sich sicher war, absolut Sinnloses zu unternehmen, erhob sie sich schleppend von ihrem Lieblingsstuhl. Sie hatte ihn vor der Preßmaschine der Sperrmüllabholer gerettet und vor alter Farbe befreit. Und er (massiv Eiche - Jugendstil!) sollte sie einen kleinen Schritt ihrem Kindheitstraum vom kleinen eigenen Häuschen näherbringen. Heute lächelte das Möbel sie müde an und schien ihr nur mitteilen zu wollen, wie hoffnungslos weit entfernt - Sonnen-, Licht- und Regenjahre - sie von ihrem Ziel war.

Beim Vorübergehen an der Gebäckschale sprang sie ein Butterkeks an. Sie nahm ihn, ganz in Gedanken, und schob ihn zwischen die Zähne. Dabei dachte sie nicht mit dem geringsten ihrer Gedanken an ihre Kalorientabelle. Auf ihrem wohlschmeckenden Komplizen im Kampf gegen alle Genußbeschneidungen kauend, schlurfte sie ins Bad. Sie hatte damit gerechnet, doch es traf sie jedes Mal wie ein Schlag in die Magengegend: Schon lange wußte sie, wie Bartstoppeln, verschmierte Zahnpasta und Haare im verklebten Waschbecken aussahen, doch es nahm ihr jedesmal von neuem den Atem. Sie weigerte sich hartnäckig gegen die Vorstellung, es sei ihre Lebensaufgabe, diesen erbärmlichen Zustand Tag für Tag ändern zu müssen.

Lustlos räumte sie die Plastik-Seifenschale zur Seite, die sich glibbernd über sie zu amüsieren schien. Sie wünschte sich, plötzlich zu irgendwelchen spektakulären Tagen fähig zu sein. Dabei sah sie sich das schmierige Teil theatralisch an die Wand werfen, so, wie es in Spielfilmen oft mit teueren chinesischen Vasen getan wird. Da gab es allerdings nur vier Probleme: Das blöde Ding käme bestimmt wieder zurück. Es sah kein eifersüchtiger Liebhaber zu. Keine Kamera filmte. Und sie würde danach die Sauerei wieder aufwischen müssen. So verschluckte sie diese Aggression zu den vielen anderen.

Draußen hörte sie Kinderlachen. Doch ihre Kinder lachten auch: laut und viel. Über sie. Sie sah hinaus durch die filigrane Häkelspitze und beneidete die Mutter, die im durchbrechenden Sonnenschein stolz mit dem Kinderwagen den Gehweg abschritt, als gehöre jeder Zentimeter davon ihr. War nicht auch sie noch heute morgen, stolz auf den ersten Zahn und die ersten Plappererfolge ihres Sprößlings mit selbigem flaniert? Sie konnte sich nur erinnern, kompakte Windelpakete schleppend und einen Kinderwagen schiebend - an dem sich ständig das rechte vordere Rad im unpassendsten Augenblick verabschiedete, und in dem ein quäkender Tyrann saß, der immerzu "Mamma, Bezzel, Mamma Bezzel" rief -, dem zweiten Ableger nachhetzend, meist noch kurz vor Aufgabe des Lebenswillen das trostlose Zuhause erreicht zu haben.

’Wo ich meine Windelpakete fallenlasse, ist mein Zuhause’, dachte sie und mußte grinsen. Ein wenig aufgeheitert machte sie einen Schritt, stand im Flur und linste in den Spiegel. Sie wollte ihn gerade fragen, wer denn nur die Sarkastischste im ganzen Land sei, wurde aber von diesem Vorhaben abgebracht. Sie erkannte sich nicht wieder, was sie dann doch etwas irritierte. Erstaunt blickte sie in ein fremdes Gesicht und bemerkte verwundert, daß sie gerade blonde Strähnchen trug. Dies war ihr ebenso ungeläufig wie ihr Alter. Würde sie nach beidem, Haarfarbe und Alter, gefragt werden, müßte sie wohl ein Weilchen rechnen oder überlegen ... 61 geboren ... jetzt haben wir 83. Oder 84? Ergibt ... ah ja ...!

Früher hatte sie, wie aus dem oft zitierten Revolver geschossen, zu sagen gewußt: Sechzehneinhalb und drei Tage ... früher hatte sie sich straßen-köteraschblond in Erinnerung ... aber heute? Wer interessierte sich überhaupt noch für irgend etwas, das sie betraf? Sie selbst am allerwenigsten. Bei diesen Selbstmitleidsanfällen kam sie sich vor wie hundertdreiundzwanzig - für jedes Kind fünfzig Jahre - und glaubte zu wissen, ihr Leben in braunen Faltenröcken, braunen Teppichböden mit braunem Geschirr und Gräsertapete von nun an ohne nennenswerte Änderung abschließen zu können. So sinnierte sie ein Weilchen vor sich hin: ’Das hat den Vorteil, daß ich mich mit siebzig nicht mehr arg umstellen muß. Von jetzt an passiert nichts Aufregendes mehr, außer daß vielleicht das stinkige Deo endlich leer wird, oder daß ich nach hundertjährigem Suchen lila Ballerinas in Größe achteinhalb finde (Transvestitenschuhe führen wir nicht ... hahaha)!’

Sie beschloß, den fiesen Spiegel, der sie so zur Närrin hielt, mit Verachtung zu strafen und ihn einfach nicht zu putzen. Ziellos irrte sie umher, bis sie sich plötzlich vor dem ekkletizistischen Kleiderschrank wiederfand. (Für all die, die noch keinen Stilkundekurs in der Volkshochschule besucht haben: Es handelt sich hierbei um ein stilmäßig zusammengewürfeltes architektonisches Verbrechen an der Menschheit. In diesem Fall historizismus-bröselnde Attika über ionischen Säulen, daneben wurmstichige Gründerzeit und ums Eck’ Jugendstil: spinnwebengirlandenumkränzte Bauernmalerei - mehr als naiv! - über self-made Preßspan, versehen mit dem Warnschild: Hier droht der Brechreiz!)Aus tiefstem Seelengrunde seufzend, öffnete sie das schrankähnliche Gebilde. Sie war sich bewußt, sich hierbei erneute Schmerzen zuzufügen.

’Ich will mich quälen’, dachte sie, ’ich leide, also fühle, also lebe ich.’ Ihr quoll ein Riesenhaufen Stoff entgegen. ’O nein’, durchfuhr es sie,’vielleicht sollte ich doch ...’ Sie hob an, sich gegen die knarrende Tür zu stemmen. Kraftlos sackte sie aufs Bett, Kategorie "frühes Mittelalter". Von dort aus betrachtete sie das Elend aus sicherer Entfernung - ca. 20 Zentimeter. Mehr ließen die Räumlichkeiten nicht zu. O, sie kannte diesen ganzen Schrank voll "nichts anzuziehen" in- und auswendig! Das meiste war entweder hoffnungslos zu eng, hoffnungslos zu altbacken, hoffnungslos zu unkombinierbar, oder sie hatte es in Anfällen geistiger Umnachtung gekauft. Diese standen unter dem Stern des Glaubens, ihr Mehlwurmteint vertrüge sich mit Apricot, Eierschale oder Schweinchenrosa. Da drängelten sich rund fünfzig handgestrickte Modellpullover, in denen sie das "fette-Raupe-feeling" einfach nicht loswurde. Immerhin hatte sie die wertvollen Stücke wenigstens der Farbe nach sortiert. Womöglich wurde das "ich-sprenge-alle-Ketten-Gefühl" unter anderem mit durch die Tatsache ausgelöst, daß sie zwischenzeitlich eine halbe Tafel Schokolade - ganz in Gedanken - dem einsamen Keks nachgeschoben hatte. (Ich hatte es nicht erwähnt? Sie hatte es nicht bemerkt!)

Auf einmal überfiel sie dieses selbstmitleidige "was-hab-ich-schon-vom-Leben?-Gefühl", und sie überkam aufmüpfige Wut. Muffig schlug sie die Schranktür zu, welche ihr auch gleich wieder entgegenkam. Ganz im Gegensatz zu ihrem sonstigen Glück hatte sie sich noch rechtzeitig vom Unfallort entfernen können. So verpuffte die Kraft in einer einsam quietschenden Tür, die noch ein bißchen träge hin- und herwankte, ehe sich die Bewegung in Zeit und Raum verlor.

Die junge Frau hatte schon wutschnaubend das Wohnzimmer erreicht. Sie wollte endlich handeln. Nicht immer nur reagieren, sonder agieren! Beim Blick auf die Uhr mußte sie feststellen, daß ihr dazu noch genau fünfundzwanzig Minuten Zeit bleiben. Dann mußte sie Junior zwei aus dem Bett und Junior eins aus dem Kindergarten holen.

Hastig nahm sie einen Stapel blütenweißes Papier und begann, eine Bestandsaufnahme ihrer Eigenschaften aufzulisten. Nachdem sie vier Blätter beidseitig mit Negativem angefüllt hatte (zu viele Kilos, zu wenig Geld, zu viele Wünsche, zu wenig Selbstvertrauen ...), besann sie sich des positiven Denkens. Sie nahm ein neues Blatt und schrieb optimistisch auf: "Ich habe anzubieten:" Nach endlosen Minuten des Grübelns betrachtete sie die Ausbeute ihrer Recherchen. Da standen drei Punkte:

--- schöne Ohrläppchen

--- Beherrschung von Stricknadeln und Wolle

--- gut ausgeprägte Aggressionen

’Na ja ... immerhin! Besser als nichts’, resümierte sie. Ein weinerliches Quäken riß sie aus ihren Gedanken. Ein Blick auf die Uhr mahnte zur Rückkehr aus der Traumwelt ins wirkliche Leben. Sie holte das durchgeschwitzte Kind aus seinem Bettchen und trat an den Wickeltisch. Während sie, ganz in Gedanken, Beruhigungsformeln über das plappernde Kind sprach, den Windeleimer öffnete und das Produkt des Nachmittagsschlafs in selbigem versenkte, bevor ihr der aufsteigende Gestank die Sinne rauben konnte, gingen ihr diese drei Punkte nicht mehr aus dem Kopf. ’Aus den Ohrläppchen kann man nicht viel machen ... Werbung für Ohrstecker?’ Die Strickwut könnte man vielleicht in eine eigene Boutique stecken. Aber dazu bräuchte sie Geld, müßte mit Karl Lagerfeld verwandt sein und, und, und ...

Sie nahm das nun freundlich quietschende Kind auf den Arm und trat mit ihm ans Fenster. "Dadada", sagte es und zeigte mit seinem Wurstärmchen hinaus in die Frühlingssonne. "Ja", antwortete sie überzeugt, "ja, du hast recht! Eines Tages! Eines Tages werdet ihr da draußen von mir hören! Von mir, meinen gut ausgeprägten Aggressionen und dadada...." Und sie war sich ganz sicher.... endlich wieder sicher... so sicher wie schon lange nicht mehr.

Dadada.

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